Städte für Menschen – Straßen für Begegnungen

Straßen sind immer auch Orte der Begegnung und Auseinandersetzung gewesen. Doch seit den 50er Jahren wurde das Zu-Fuß-Gehen und Verweilen eine Sache für Restflächen. Dass die Straße – der öffentliche Raum – noch viel mehr bietet, als von A nach B zu kommen, geriet zunehmend in Vergessenheit.

„What is the city but the people?“ William Shakespeare

Wohnzimmer für alle

Mit einer Wohnung verglichen wäre die Straße demnach nicht nur Gang (zum Durchgehen) und zeitweise Abstellkammer (für unsere Fahrzeuge), sondern auch Wohnzimmer. Ein Wohnzimmer, in dem sich die schönen Dinge des Lebens abspielen: Freunde treffen, Verweilen, Spielen, und vieles mehr. Voraussetzung dafür ist, dass Menschen ihre öffentlichen Räume als wertvolles Gut betrachten.

“People have always lived on streets. They have been the places where children first learned about the world, where neighbors met, the social centers of towns and cities, the rallying points for revolts, the scenes of repression… The street has always been the scene of this conflict, between living and access, between resident and traveler, between street life and the threat of death.” – Donald Appleyard, Livable Streets, 1981

Beziehung zur Umgebung

Die Art und Weise, wie wir uns durch die Stadt bewegen, beeinflusst unsere Wahrnehmung derselben, wie ein Experiment aus der Mobilitätserziehung zeigt:
Selma zeichnet Blumen, Fahrzeuge, Menschen und Hunde auf ein Blatt Papier. Sie gibt damit all das wieder, was ihr zu ihrem Schulweg einfällt. Dominik hat ebenfalls seinen Schulweg gezeichnet. Groß sind die Gebäude, die sein Zuhause und die Schule darstellen, dazwischen schlängelt sich ein graues Band, die Straße.
Es ist kein Zufall, dass die Zeichnungen der beiden Kinder so unterschiedlich detailliert ausfallen. Selma geht jeden Tag zu Fuß zur Schule, Dominik wird mit dem Auto chauffiert. Das Experiment hat Eingang in die Mobilitätserziehung gewonnen und lässt sich beliebig wiederholen. Kinder, die häufig zu Fuß unterwegs sind, nehmen ihre Umwelt intensiver wahr – mehr, als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Zu Fuß zur Schule

Beziehung zur Nachbarschaft

Motorisierter Verkehr beeinträchtigt das Zusammenleben der Menschen. Donald Appleyard fand bereits in den frühen 80er Jahren heraus, dass in einer Straße umso mehr nachbarschaftliche Beziehungen bestehen, je weniger intensiv sie befahren wird.
„Bevor mir daheim die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich eine Runde spazieren!“, erklärt Erna W. Die alleinstehende Mittsechzigerin ist Teilnehmerin einer Umfrage zum Fußverkehr in Wien, durchgeführt im Jahr 2013. Was zum Zu-Fuß-Gehen motiviert, sind begrünte und belebte Straßen und Parks. Was hinaus lockt, ist das Leben auf der Straße, das Gefühl, Teil der Stadt zu sein.
Lärm und Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs stellten sich als größtes Hindernis beim Zu-Fuß-Gehen heraus.

Koexistenz statt Konkurrenz

In allen Großstädten der Welt wird über eine menschenfreundlichere Verkehrsorganisation nachgedacht. Darüber, dass Straßen auch eine Bedeutung für das soziale Leben haben. Selbst in so autozentrierten Städten wie New York und Los Angeles entstehen Fußgänger- und verkehrsberuhigte Zonen.
Und auch in Österreich tut sich etwas. Flaniermeilen und Nachbarschaftsgärten bringen Lebensqualität auf die Straße. Begegnungszonen verlangen wieder mehr gegenseitige Rücksichtnahme und Kommunikation im Verkehrsgeschehen. Statt reguliert durch Ampeln und Verkehrszeichen teilen sich hier alle VerkehrsteilnehmerInnen gleichberechtigt auf niedrigem Geschwindigkeitsniveau den Straßenraum.
„Shared Space“ heißt das Konzept, und ob es sich durchsetzt, wird die Zukunft zeigen.
Auf der Landstraße in Linz, dem Sonnenfelsplatz in Graz und der Mariahilfer Straße in Wien kann sie jedenfalls schon ausprobiert werden:
Die neue Kultur des Miteinanders auf der Straße.

Artikel, erschienen  am 27. Mai in TAU – Magazin für Barfußpolitik

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