Entlang der U4-Trasse sind zahlreiche Fußgänger und Fußgängerinnen unterwegs. Eine Person im Bildvordergrund benutzt einen weißen Stock.

O&M Training: Von Hürden und Alltagsgegenständen

Andrea Wahl arbeitet im Blinden- und Sehbehindertenverband als Trainerin für Orientierung und Mobilität (O&M) und lebenspraktische Fähigkeiten. Im Gespräch verrät sie, wie vielfältig die Wünsche ihrer Klient:innen sind, wie ein O&M-Training ablaufen kann und warum manche Betroffene auch nach dem Training scheitern können.

Der Blinden- und Sehbehindertenverband ist ein gemeinnütziger Verein. Was ist seine Aufgabe?

Der Verein ist als Selbsthilfeverein vor vielen Jahren gegründet worden. Mittlerweile hat sich die Idee des Vereins weg vom Austauschgedanken hin zum beratenden Verein verschoben. Wir bieten in verschiedenen Bereichen Beratung für sehbehinderte und blinde Menschen sowie deren Angehörige an. Dabei handeln wir nur auf Anfrage und stehen dann mit unseren Tipps und Tricks zur Verfügung. Dabei unterstützen wir vor allem Menschen, die früher besser gesehen haben, aber auch Kinder in individuellen Einzeltrainings.

Andrea Wahl

Foto: BSVWNB/Thomas Exel

Wenn wir im Bereich Orientierung und Mobilität (O&M) bleiben. Was sind konkrete Probleme, mit denen sich die Menschen an Sie wenden?

Die Probleme sind immer individuell, mögliche Probleme sind aber zum Beispiel: Die Menschen sehen schlechter, wodurch der Weg zum Arzt oder zum Supermarkt zur Herausforderung wird, weil sie vielleicht das grüne oder rote Licht an der Ampel nicht mehr sehen. Außerdem ist das soziale Umfeld vielleicht auch kleiner geworden. Und so stehen sie vor dem Problem, für diesen kurzen Weg ein Taxi nehmen zu müssen. Ein anderes Beispiel ist, dass eine Person übersiedelt und sich deswegen an uns wendet, um ausgewählte neue Ziele kennenzulernen.

Orientierung lehren und lernen

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus? Gehen Sie dann mit diesen Personen die gewünschten Wege entlang?

Ja, beispielsweise. Wenn jemand einen bestimmten Weg einüben möchte, dann nehmen wir uns die Zeit, genau wie ein Elternteil mit dem Kind den Schulweg abgehen würde. Dabei stecken wir Orientierungspunkte, die auch für jene Personen erkennbar sind, die schlecht sehen. Das kann zum Beispiel ein Zaun sein, der speziell gestaltet ist und an dem man abbiegen muss. Den Weg bitten wir die Personen dann, allein zu gehen. Denn es braucht einfach Zeit, den neuen Weg kennenzulernen. Wir gehen auch manchmal als Mäuschen hinterher, manchmal wissen’s unsere Klienten und Klientinnen, am Schluss nicht mehr. Wir sind abhängig von den Wünschen und Bedürfnissen unserer Klienten und Klientinnen. Manche wollen sich auch nur den Weg zeigen lassen und dann allein bzw. mit Verwandten üben. Und natürlich versuchen wir auch immer an die Zukunft zu denken: Was ist, wenn Winter ist? Was ist, wenn Baustellen da sind? Ob wir dann einen Alternativweg probieren, hängt von unsere Klienten und Klientinnen ab. Schließlich ist es auch deren Zeit und Geld.

Aber das Orientierungstraining ist nur ein Thema. Manchmal ist es so, dass die Mobilität erst gewünscht wird, man sich aber noch gar nicht traut hinaus zu gehen. Dann bauen wir zuerst die Grundlagen auf. Wir versuchen herauszufinden, was sind die Ängste und warum sind die Ängste da. Wenn’s zum Beispiel darum geht, sich vor dem nächsten Mistkübel schützen zu wollen, über wir als erstes Schutztechniken. Wie schütze ich mich mit meinem rechten Arm, meinem linken Arm? Wie schütze ich meinen Kopf? Wie schütze ich mich mit Fußtechniken? Dabei können wir auch die Orientierung mit einem Stock probieren. Also das sind lauter Grundlagen.

Wichtige Grundlagen kennen

Bitte erzählen Sie mir von einer Trainingseinheit aus der letzten Woche, damit ich mir das O&M-Training besser vorstellen kann. 

Heute Vormittag war ich in Stockerau. Dieser blinde Herr ist verheiratet, und seine Frau muss immer wieder stationär ins Krankenhaus. Also das Krankenhaus ist wirklich fast ums Eck von seiner Wohnung. Und er hat mich gebeten, einfach diesen Weg zum Krankenhaus mit ihm abzugehen, damit er ihr einfach etwas bringen und sie besuchen kann. Herausgestellt hat sich, dass er vor Jahren ein Mobilitätstraining hatte und gelernt hat mit einem Stock umzugehen. Nachdem er’s nie angewendet hat, hat er es komplett verlernt. Daher ist dieser Weg einfach gar kein Thema momentan. Eine einzige Straße gibt’s auf diesem Weg zu überqueren, und die Straßenüberquerung ist das Problem. Wir haben schon zig Stunden miteinander verbracht, in denen wir Straßenüberquerungen und mit dem Stock umzugehen üben. Sein ursprünglicher Wunsch war nur ins Krankenhaus ums Eck zu gehen. Er hat aber eingesehen, dass das nicht ganz so einfach ist, wie er sich das vorgestellt hatte.

Individueller Alltagsgegenstand

Ich würde gern noch einen Perspektivwechsel machen. Stellen wir uns vor, ich stelle meine Tasche irgendwo unachtsam ab, und es kommt eine Person vorbei, die schlecht sieht und bei Ihnen ein Training absolviert hat. Wie wird sie reagieren? 

Vielleicht stolpert sie drüber, weil sie nicht zuhören wollte, wenn wir gesagt haben, bitte „Gehen Sie langsam! Verwenden Sie einen Stock, der voraustastet!“. Oder, wenn die Person den Stock so anwendet, wie wir’s vorgeschlagen haben, wird nichts passieren. Aber das kommt selten vor. Denn es ist wie beim Autofahren üben. Nach einem Jahr hält man das Lenkrad im Auto anders, als man’s in der Fahrschule gelernt hat. Der Stock ist ein Alltagsgegenstand, der dann wie auch immer verwendet wird. Nicht unbedingt so, wie wir’s vorgeschlagen haben. Also einen Stock mit sich führen, heißt noch lange nicht, vor jeder Gefahr sicher gefeit zu sein. Jede Person ist selbst verantwortlich.

Drei Frauen gehen die Pius-Parsch-Promenade in Floridsdorf entlang. Eine von ihnen hat einen weißen Stock.

Foto: Christian Fürthner

Kommen dann Personen zu einem erneuten Training zu Ihnen, wenn ihnen so etwas passiert ist? Oder erinnern sie sich quasi an ihre Fahrstunden mit dem Stock?

Eventuell, eventuell auch nicht. Da muss schon was sehr Großes stattfinden für ein nochmaliges Training.

Erster Schritt ist größte Hürde

Eine letzte Frage noch: Was sind die großen Hindernisse und Hürden, die öfter an Sie herangetragen werden, wofür sich Menschen ein Training wünschen?

Die größte Hürde ist eigentlich der erste Schritt. Also dieses sich Eingestehen, ich möchte Hilfe in Anspruch nehmen oder Unterstützung durch eine Fachkraft, die mich beobachtet und Hinweise gibt, das ist ein ganz großer Schritt. Wir im Verein sind auch nur mit jenen Personen in Kontakt, die sich für Hilfe entschieden haben, also quasi mit der Spitze des Eisbergs. Die meisten lernen sich irgendwas selber ein, ohne unsere Fachkräfte in Anspruch zu nehmen.

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